Doktors Dilemma
Spielzeit 2020.2021 / 2021.2022
Birgitta Lamparth, Wiesbadener Kurier
Eine Impfung mit Folgen - In Shaws „Doktors Dilemma“ geht es um Triage
WIESBADEN. Die Bühnenarbeiter sind die einzigen, die in den Umbaupausen eine Maske tragen. Dabei geht es in diesem Stück doch um eine hochansteckende Krankheit. Da wäre das ein spannendes Requisit für das Ensemble gewesen – zumindest zeitweise, mit ganz neuen Anforderungen an Sprache und Mimik. Aber nichts: keine Maske, kein Desinfektionslösungsständer, kein Impfzentrum. Keine durchaus mögliche Aktualisierung eines Stoffes, bei dem ein Begriff im Mittelpunkt steht, den wir durch Corona gelernt haben: Triage.
Jenes Damoklesschwert, das seit der Pandemie über dem Gesundheitssystem hängt: Eine Priorisierung von Kranken, die man noch behandeln und solchen, die man nicht mehr aufnehmen kann. Wenn nun in Wiesbaden George Bernards Shaws „Doktors Dilemma“ auf die Bühne kommt, dann doch mit diesem Hintergedanken. Aber die Inszenierung von Tim Kramer greift das nicht wirklich auf und setzt das 1906 uraufgeführte Stück eher konservativ um. Das kann seinen Charme haben, lässt aber definitiv Chancen ungenutzt.
Götter in Weiß entscheiden über Leben und Tod
Es geht um Sir Colenso Ridgeon (Uwe Eric Laufenberg), der mit einer neuen Impfung Tuberkulosekranke retten will. Aber er hat nur zehn Plätze frei. Und muss sich entscheiden zwischen dem genialen, aber menschlich fragwürdigen Künstler Louis Dubedat (Christoph Kohlbacher), dessen betörende Frau Jennifer für ihn Bittstellerin ist (Mira Benser), und dem Arme-Leute-Arzt Dr. Blenkinsop (Felix Strüven). Diese Triage-Situation führt zu entlarvenden Werte-Diskussionen mit seinen Kollegen Sir Patrick Cullen (Bernd Ripken), Cutler Walpole (Michael Birnbaum), Leo Schutzmacher (Martin Plass) und Sir Ralph Bloomfield Bonington (Uwe Kraus): Alte weiße Männer urteilen über Leben und Tod. Schließlich wird über Bande gespielt – wobei Ridgeons Eigennutz und der Liebreiz der Künstler-Gattin keine unwesentliche Rolle spielen.
Da gibt es einige Wendungen. Aber der eigentlich medizinisch wie ethisch interessante Fall schlingert dabei auch in eine einseitige Liebesgeschichte ab. Diese Verlagerung – wir erfahren viel über den Künstler, aber was ist eigentlich mit Blenkinsop? – ist nicht der Inszenierung anzulasten: Das ist das „Dilemma“ der in nur vier Wochen geschriebenen Vorlage Shaws. Die kann sich auch nicht entscheiden zwischen bissiger Komödie und Tragödie.
In der Ausstattung von Gisbert Jäkel und den feinen Roben und pfiffigen Pepita-Anzügen von Jessica Karge holt das Ensemble doch einiges heraus. Allen voran der sehr präsente Christoph Kohlbacher als „begabtes Scheusal“ Dubedat, das sich durch die Welt schnorrt und von den Göttern in Weiß, die er vielsagend in seinem Atelier mit einer Mitra dekoriert, kein bisschen beeindrucken lässt. Dass die bei Jennifer nur so dahinschmelzen, liegt an Mira Benser.
Ein Wiedersehen mit Ripken und Kroll
Die Wiesbadener Theatergänger werden sich auch über den Gast Bernd Ripken freuen: Der Grandseigneur war viele Jahre Ensemblemitglied und ist hier ein kluger Sir Patrick mit salomonischer Urteilskraft. Und auch mit Monika Kroll gibt es ein Wiedersehen als freche Concierge Ridgeons – ein Zerberus mit Herz.
Diesem Ridgeon gibt Intendant Laufenberg in einer weiteren Autoritätsrolle eine (selbst-)verliebte, mitunter aufbrausende Kontur, nimmt sich aber im Laufe des durchaus unterhaltsamen, dreistündigen Abends (mit Pause) zurück. Dafür trumpfen Uwe Kraus und Michael Birnbaum als gewitzte Weißkittel ordentlich auf. Feine satirische Kabinettstückchen steuert Lina Habicht in verschiedenen Hosenrollen bei – eine davon verrät, wie Shaw auch über Reporter denkt. Was er von Privatmedizin und Impfungen hält, das lässt sich auf zwei unwahrscheinliche Worte reduzieren: „Heilung garantiert“. Ein Abend, der sein Publikum finden wird – das der Premiere war begeistert. Für die Schauspieler sicher eine Wohltat, wieder einmal den Applaus von deutlich mehr Zuschauern zu hören. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.
Shirin Sojitrawalla, nachtkritik.de
Doktors Dilemma - Staatstheater Wiesbaden - Grüße aus dem Vorvorgestern
Des Doktors Dilemma besteht darin, dass er sich entscheiden muss zwischen zwei Patienten. Nur einen kann er vorm Tod retten. Man kennt das mittlerweile: Stichwort Triage, also die Priorisierung medizinischer Hilfsleistungen. Keine schöne, aber unter bestimmten Umständen nötige Maßnahme. George Bernard Shaw, der übrigens Impfgegner gewesen sein soll, benutzt das Verfahren, um nach dem Wert des einzelnen Lebens zu fragen, recht eigentlich aber um unterschiedliche Berufsstände auf die Schippe zu nehmen.
Das fängt bei der Wirtschafterin Emmy an, gespielt von der wunderbar impertinent unbeeindruckten Monika Kroll, welche die Urkunden ihres Chefs sehr nebenbei abstaubt. Im Fokus stehen allerdings Ärzte, sechs an der Zahl laufen im Stück auf, jeder auf seine Weise hinüber, manch einer erschöpft sich in sensationell doofen Heilmethoden. Allen voran der Chirurg Cutler Walpole, den Michael Birnbaum als Pepita-Auslaufmodell in Stellung bringt. Alles, was uns krank macht, verortet er in einem "Parabeutel", ein verkümmertes Organ, das sich entfernen lässt.
In nur vier Wochen hat Shaw das Stück geschrieben – just saying! Die auftretenden Ärzte sind Karikaturen ihrer selbst, mehr Quacksalber als Facharzt, mal gröber, mal feiner, meist dient ihnen das eigene Fortkommen und nicht der hippokratische Eid als Leitlinie. Bernd Ripken spielt Sir Patrick Cullen mit der nötigen Soigniertheit in Stimme und Haltung, während der Wiesbadener Intendant Uwe Eric Laufenberg in der Titelrolle des Sir Colenso Ridgeon bemüht sich sichtlich, seiner Figur Menschlichkeit einzuhauchen, mit Gefühlen und so. Die Schauspielerin Lina Habicht zeigt indes in mehreren Hosenrollen den nötigen satirischen Überschlag. Sehr albern überformt sie ihre Figuren, spitzt sie satirisch zu, stattet jede mit eigenen blöden Grimassen und Gesten aus. [...]
"Der Arzt am Scheideweg". Was klingt wie der Titel eines Heftchenromans, ist der bekanntere deutsche Name des Bernard-Shaw-Stücks "The Doctor's Dilemma". 1906 in London uraufgeführt, zwei Jahre später in Berlin. 1976 wurde die Inszenierung von Rudolf Noelte an den Münchner Kammerspiele zum Theatertreffen eingeladen. [...]
Die wirklich interessante Figur des Stücks ist der genial unmoralische Künstler Louis Dubedat, die eigentliche Hauptrolle, in der Vergangenheit besetzt mit Schauspielern wie Gustaf Gründgens oder Klaus Maria Brandauer. In Wiesbaden verkörpert Christoph Kohlbacher ihn sehr eigen, porös und durchgeknallt. Nicht nur das Klischee eines Künstlers, das auch, sondern die Essenz eines übernatürlichen Sein-Zustands, gleichermaßen kränklich wie größenwahnsinnig.