Drei Schwestern
Premiere 2021.2022 => Andrej Sergejewitsch Prosorow | Paul Simon * Natalja Iwanowna | Christina Tzatzaraki * Olga | Lena Hilsdorf * Mascha | Mira Benser * Irina | Lina Habicht * Fjodor Iljitsch Kulygin | Christian Klischat * Alexander Ignatjewitsch Werschinin | Matze Vogel * Nikolaj Lwowitsch Tusenbach | Christoph Kohlbacher * Wassilij Wassiljewitsch Soljonyj | Noah L. Perktold * Iwan Romanowitsch Tschebutykin | Uwe Kraus * Alexej Petrowitsch Fedotik | Felix Strüven * Wladimir Karlowitsch Rodé | Benjamin Krämer-Jenster * Ferapont | Bernd Ripken * Anfissa | KS Monika Kroll
Spielzeit 2021.2022 / 2022.2023 / 2023.2024
Termine und Besetzungen unter:
www.staatstheater-wiesbaden.de
Matthias Bischoff, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Drei Schwestern am Staatstheater Wiesbaden : Anstrengend öde Leute
Uwe Eric Laufenberg inszeniert am Hessischen Staatstheater Tschechows „Drei Schwestern“ und verlegt das Stück zum Teil in einen Bunker.
Schon als das Bühnenlicht im Kleinen Haus des Staatstheaters Wiesbaden angeht, ahnt man: Einen Bruch mit Tschechow-Sehgewohnheiten wird es in Uwe Eric Laufenbergs Inszenierung von „Drei Schwestern“ nicht geben. Denn an den Wänden in Rolf Glittenbergs tiefem Einheitsbühnenraum mit ein paar Sitzmöbeln an den Seiten künden die notorischen Birken, dass wir am vertraut öden russischen Landleben teilnehmen und in den kommenden dreieinhalb Stunden die Sehnsucht der drei Hauptfiguren auf uns übergeht: Nach Moskau!
Und doch sieht man bis zur Pause dem wirkungsvoll arrangierten Figurentableau nicht ungern zu. Mal ein Dialog vorne an der Rampe, ein Dreiergespräch am Fenster, ein Gruppenbild mit nahezu dem gesamten Ensemble ganz hinten am Esstisch. Dann, direkt nach der Pause, ein unerwarteter Tiefschlag, da verwandelt sich der Gutshof in einen Bunker. Menschen liegen auf Matratzen, Mütter halten ihren Kindern die Ohren zu, während von draußen Explosionen, Sirenen, Maschinengewehrfeuer zu hören ist. Der Großbrand im Städtchen, auf den das Personal des Stücks im Original sehr unterschiedlich reagiert, mag ja als Mittel zur Kontrastierung der gepflegten Leiden der Hauptfiguren mit echten Katastrophen eine dramaturgische Funktion haben, aber die Kriegsassoziationen sind ein Fehlgriff.
Er wirkt umso irritierender, als sich Laufenberg über weite Strecken mit viel Feingefühl für Nuancen und für die zwischen den Zeilen verborgenen Abgründe seinen Figuren nähert und gerade in den leisen Tönen überzeugt. Das fällt besonders etwa bei Kulygin auf, einem Mann, mit dem man nicht verheiratet sein möchte, doch aus dessen emotionaler und intellektueller Leere Christian Klischat ein bewegendes Kabinettstückchen macht. Sein trotziges Beharren darauf, glücklich zu sein und eine wunderbare Frau zu haben, geht in seiner leisen Dumpfheit nicht minder zu Herzen als Maschas herausgebrüllte Verzweiflung, als ihr einziger Lebenstrost Werschinin (Matze Vogel) mitsamt dem Regiment versetzt wird und sie ihre Zukunft als lebendig begrabene Ehefrau Kulygins vor sich sieht. Auch Werschinin selbst mit seinen leeren Blicken und dem stumm ertragenen Leid an seiner Ehe berührt mit seinem tristen, leerlaufenden Philosophieren.
Der Mix funktioniert nicht
Neben diesen überzeugenden Figuren, zu denen neben den Schwestern auch der Baron Tusenbach (Christoph Kohlbacher) gehört, leistet sich Laufenberg aber auch verstörende Griffe in die Klamottenkiste. Bruder Andrej (Paul Simon) mit seinen wirr nach oben gekämmten Haaren ist von Beginn an die Karikatur des gescheiterten Akademikers, und wenn er am Ende schließlich mit einem großen Kinderwagen seine Bahnen kreuz und quer über die Bühne zieht, kann man nur noch schmunzeln. Und Christina Tzatzaraki als seine herrische Frau Natalja Iwanowna nimmt das Schicksal, die unsympathischste Figur des Stücks zu mimen, klaglos an und gibt die gefühlskalt-berechnende Kleinbürgerin. Ebenso Uwe Kraus als Regimentsarzt Tschebutykin, der mit seinen lebensüberdrüssigen „Es ist eh alles egal“-Sottisen und reichlich alkoholisiertem Schwanken immerhin so etwas wie der Kommentator der ihn umgebenden Tristesse ist. Es ist vielfach bemerkt worden, dass die melancholisch schwermütige Lesart, die sich hierzulande für Tschechow-Inszenierungen eingebürgert hat, den vielen komischen Textanteilen nicht gerecht wird. Das mag Laufenberg dazu animiert haben, immer wieder seltsame Witzigkeits-Klötze in die zarte Traurigkeit zu wuchten, das gipfelt in einem Säbeltanz, von dem man sich dringend wünscht, dass er ironisch gemeint ist.
Warum schaut man sich das an, ja warum tut man sich das an, über drei Stunden lang? In gelungenen Inszenierungen vergisst man die Frage, obwohl man bei anstrengend öden Leuten zu Gast ist. In Wiesbaden blitzt immer mal wieder etwas Fesselndes auf, man wird berührt und doch gleich wieder von dem gepflegten und ausgestellten Ennui zurückgestoßen, bis man innerlich ganz eins ist mit der sich im Kreis drehenden Langeweile auf der Bühne.
Katja Sturm, Frankfurter Neue Presse
Sie wollen nach Moskau - Laufenberg inszeniert Tschechows "Drei Schwestern"
Das Drama "Drei Schwestern" stand im Wiesbadener Staatstheater bereits auf dem Plan, als die russische Armee noch nicht in der Ukraine einmarschiert war. Die aktuellen Entwicklungen haben den Blick auf das Stück verändert. Wenn nun auf der Bühne die Rede davon ist, dass der nicht mehr vorhandene Krieg eine Lücke hinterlassen hat, die es zu füllen gilt, und wenn aus dem Hintergrund heraus Geräusche wie von einem Bombardement ertönen, obwohl am nicht näher benannten Handlungsort nur ein Feuer wütet, mutet das schmerzhaft ironisch an.
Intendant Uwe Eric Laufenberg hält sich bei seiner Inszenierung des 1901 uraufgeführten Werks bis hin zur Farbe der Kleider eng ans Original. Die vernünftige Olga (Lena Hilsdorf) trägt hochgeschlossenes Blau, die melancholische Mascha (Mira Benser), von der Schulbank aus in die einengende Ehe mit dem biederen Kulygin (Christian Klischat) manövriert, trauert in Schwarz, und für die lebhafte Irina (Lina Habicht) hat Marianne Glittenberg einen weißen Hänger entworfen.
Die Bühne hat Rolf Glittenberg zweigeteilt: Im Hintergrund ein Esszimmer, wie ein Gemälde in starrem Rahmen, davor ein großer, leerer Salon mit hohen Fenstern. Die Wände zieren die hellen Stämme von Birken, des Nationalbaums, der Glück bringen soll, aber in dieser öden, nur von Soldaten belebten Provinz eine unwirkliche Szenerie bildet. Die Schwestern träumen von besseren Zeiten, von Moskau als Sehnsuchtsort, und unternehmen doch nichts dafür, um in diese Richtung zu streben. Laufenberg lässt an dem dreistündigen Abend das Publikum die ermüdende Eintönigkeit mitempfinden. Ermattet sinken die Protagonisten auf die Matratzen, die jenen als Flüchtlingslager dienen, denen der Brand ihre Wohnstatt geraubt hat, die jedoch weiterziehen, als sich die Konflikte der Gastgeber lautstark entladen.
Trotz Lärm und kurzzeitig ausgelebter Leidenschaften liegt der Fokus der Inszenierung auf den feinen Charakterzeichnungen und den sich eher leise vollziehenden Stimmungswechseln. Das sollte es im besten Fall sein, was nachhaltig in Erinnerung bleibt.
Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau
„Drei Schwestern“ in Wiesbaden: Die erschöpfende Version
Da kommen sie nicht mehr raus, wir aber schon nach einem langen Abend: Uwe Eric Laufenberg zeigt Tschechows „Drei Schwestern“ in Wiesbaden.
Das Staatstheater Wiesbaden zeigt Anton Tschechows „Drei Schwestern“ in der langen Version, gut drei Stunden Spieldauer, dazu die Pause. Und was könnte den Unterschied zwischen dort drinnen im Stück und hier draußen im Leben deutlicher machen, als nach 23 Uhr zum Italiener zu rasen und zu hoffen, dass es noch etwas zu essen gibt? Und wie sinnfällig, dass auch das Publikum zusammen mit dem Personal des Dramas eine Weile festsitzt. Und sehr wohl ahnt, dass es nicht klüger oder fitter ist als die sehr menschlichen Menschen im Stück, sondern, was das betrifft, Glück gehabt hat. Was ist ein Theaterabend gegen das Leben?
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Auch in „Drei Schwestern“ kommt Hektik auf, als im Städtchen ein Feuer ausgebrochen ist und den Obdachlosen geholfen werden muss. Aber zu sehen ist eine um sich kreiselnde Hektik ohne Vorwärtsbewegung. Außerdem das Echo der Hektik: die mörderische Erschöpfung, die die meisten Figuren allenthalben überkommt. Auch auf der Bühne des Kleinen Hauses eilen sie hin und her und beklagen ihren Erschöpfungszustand, und wie immer wirkt das – und woher genau kommt eigentlich diese Müdigkeit, die die einen erfasst, weil sie arbeiten, die anderen, weil sie nicht arbeiten?
Um es noch deutlicher zu machen, legt sich immer wieder einer der Frauen auf eine Matratze nieder und sinkt in einen abgrundtiefen Sekundenschlaf. Noch eine Überdeutlichkeit in dieser Szene: Auf dem Matratzenlager eher die Verlorenen dieser Welt als Kleinstadtfamilien, im Hintergrund eher Gewehrsalven als das Lodern von Flammen. Das Elend der weiten Welt bricht kurz ein, folgenlos.
Der Gewinn der Inszenierung des Uwe Eric Laufenberg liegt auch nicht in einer spannenden Deutung. Vielmehr gibt sie sich, weitgehend entspannt, gelegentlich überspannt, dem merkwürdigen und bei aller Enge der Situation offenen Mäandern des Stückes hin: den Stimmungswechseln und dem Unrunden, dem Umstand, dass die Figuren uneindeutig sind – nicht eindeutig melancholisch, nicht eindeutig klug, vielleicht sogar ein bisschen: beschränkt? Man sieht die traurige Langeweile, die Unzufriedenheit, die Anfälle von Glücklichsein und Verzweiflung. Wie die Figuren selbst es tun, kann man sowohl mit ihnen als auch über sie lachen. Mit finsterer Grundierung. Im 1901 uraufgeführten Stück wissen sie nicht, dass gesellschaftlich etwas gewaltig aus dem Lot geraten wird. Aber die Unruhe ist schon da. Ihre Gedanken schweifen ab, und wo sonst oft schon das Hackebeilchen der Dramaturgie ansetzt, bekommt man in Wiesbaden zum Beispiel die philosophierenden Soldaten in Ausführlichkeit geboten. Es mag mit ihrem Beruf wie mit der Provinz zu tun haben, dass ihnen das Input fehlt.
Im Stück sehnen sich die einen nach einem anderen Ort (nach Moskau, nach Moskau), die anderen nach einer anderen Zeit, für die sich all das Öde und Fade hier irgendwie gelohnt haben wird. Da sie aus dieser Zeit und von diesem Ort nicht wegkommen, herrscht derweil Stillstand. Rolf Glittenberg zeigt vorne einen Saal mit Tapete im Birkenrinden-Design: Die Natur ist bereits dekorativ weiterverarbeitet. Hinten der Durchblick zu einem zweiten Raum mit Kronleuchter und Tafel. Marianne Glittenbergs Kostüme historisieren elegant.
Das große, hingebungsvolle Ensemble hangelt sich menschlich und realistisch von Situation zu Situation. Lena Hilsdorf als Lehrerin Olga hält sich seelisch kompakt, Mira Benser als unfroh verheiratete Mascha tastet sich ins Elegische vor und Lina Habicht ist eine Irina ohne Arg. Weder Heldinnen noch auch Helden, gewiss nicht Paul Simon als tumber Bruder Andrej (seine höllische Frau: Christina Tzatzaraki), wohl kaum Uwe Kraus, dessen Militärarzt Tschebutykin glaubhaft alles egal ist. Ein Sympathieträger am ehesten noch Christoph Kohlbacher als Tusenbach, als anständiger Mensch apostrophiert (er überlebt den Abend nicht).
Es gibt schöne Momente, wunderbar die ekstatische Tanzszene oder Monika Kroll, wenn sie als Anfissa das Glück eines Zimmers für sich allein preist. Als am Ende wirklich etwas passiert – keiner im Stück erwartet es, jeder außerhalb des Stücks weiß es eh –, ist längst nicht mehr nur das Personal erschöpft, sondern auch das Publikum. So sitzt man einmal gemeinsam im Boot.
Jürgen Berger, Theater heute
Stell dir vor, es ist Sex, und keiner schaut hin
Tschechow «Drei Schwestern»
Vor etwas mehr als hundert Jahren fragten
sich die Menschen in Tschechows
Stücken, wie die Welt in zweihundert
Jahren wohl aussehen würde. Paradiesisch
stellten sie es sich vor. Da es allen
wesentlich besser gehen würde, vermuteten
sie, wären zweihundert Jahre später
alle auch bessere Menschen. Kriege
zum Beispiel würde es auf keinen Fall
mehr geben. Da wir heute noch nicht
wissen, wie die Menschen sich in den
nächsten hundert Jahren verhalten werden,
ist an dieser Stelle lediglich eine
Halbzeitbilanz möglich. Und die fällt
leider nicht wirklich schmeichelhaft aus.
Okay, in einigen Teilen der Welt geht es
den Menschen derzeit tatsächlich besser,
dummerweise sind die, denen es besser
geht, aber nicht automatisch bessere
Menschen, sondern ganz im Gegenteil
sehr häufig besonders machthungrig,
habgierig und skrupellos. Auf so Gedanken
kann man kommen, hört man im
Hessischen Staatstheater dieses «Nach
Moskau» dreier Schwestern, die Tschechow
so elegisch in der russischen Provinz
vertrocknen lässt, während die Soldaten
vor Ort für Abwechslung zuständig
sind. Ist ja gerade nirgendwo Krieg!
Batteriekommandeur Werschinin zum
Beispiel sorgt dafür, dass Mascha zeitweise
ihren langweiligen Studienrat vergisst.
Dummerweise hat der Oberstleutnant
aber eine suizidale Gattin und wird
dann auch noch abkommandiert. Spätestens
wenn er sagt, sein neuer Standort
könnte Polen sein, ist man in Gedanken
an der Grenze, wo sich einige Wochen
vor der Wiesbadener Premiere eine
innereuropäische Demarkationslinie herausgebildet
hat.
Regisseur Uwe Eric Laufenberg hat sich
von Rolf Glittenberg eine Bühne bauen
lassen, auf der dem Text nichts im Wege
steht. Die sehr schmale, dafür aber umso
tiefere Spielfläche des Wiesbadener
Schauspiels ist so gut wie leer. Lediglich
ganz hinten steht ein riesiger Tisch,
an dem die Schauspieler:innen warten
können, bis sie an der Reihe sind. Lina
Habichts Irina zum Beispiel geht immer
mal wieder in den vorderen Salon, um
an einem der großen Fenster nach draußen
zu blicken. Ein verzweifelter Blick
ist das nicht, sondern eher ein jugendlich
frischer. Diese Irina, so der Eindruck,
glaubt tatsächlich an eine bessere
Zukunft, während Mira Bensers
Mascha melancholisch weghört, sobald
der Gatte Dönkes aus der Schule erzählt
und Lena Hilsdorf als Olga so pragmatisch
müde wirkt, wie es der ältesten
Schwester geziehmt.
Über Natalja, die Zukünftige des Bruders
im Schwesternhaushalt, wird viel
geredet. Irgendwann erscheint sie tatsächlich,
und wir sehen eine jener
Frauen, die weiß, wie man sich den Gatten
und mit ihm die Restfamilie zurechtlegt. [...]
Schon fallen die Zukünftigen
übereinander her und sind Teil eines
extraordinären Tableaus: Sex im öffentlichen
Raum, und keiner schaut hin.
Und wenn in Tschechows Garnisonsstadt
später ein Großbrand wütet und
von der Bühne ganz unvermittelt das
Getöse schwerer Artillerie ins Publikum
schwappt, wird man doch noch
erinnert. Fast hat man zu diesem Zeitpunkt
schon vergessen, dass knapp 2000
Kilometer weiter im Osten tatsächlich
Krieg ist.
Birgitta Lamparth, Wiesbadener Kurier
Wer schwer an goldenen Ketten trägt
Tschechows Drama „Drei Schwestern“ am Staatstheater Wiesbaden in der Regie von Intendant Uwe Eric Laufenberg
„Wie blicken die Menschen in zwei, dreihundert Jahren auf uns?“ fragt sich Oberst Werschinin in Tschechows „Drei Schwestern“. Am Staatstheater Wiesbaden lautet nun – 120 Jahre nach der Uraufführung des Dramas in Moskau – die Antwort: Wie auf ein Sittenbild dekadenter Langeweile. Die Inszenierung von Intendant Uwe Eric Laufenberg setzt das plätschernde „Parasitenleben“ rund um die drei so unterschiedlichen Schwestern in einen gepflegten, aber auch ziemlich starren Rahmen. Aus dem die unterdrückten Emotionen heftig ausbrechen.
Aber nicht nur das Innere wird nach außen geholt – Bühnenbildner Rolf Glittenberg holt auch das außen nach innen: Vor einer Tapete mit Birkenstämmen rund um einen großen freien Salon lässt er alle Protagonisten den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Denn mit ihrem Blick auf die eigene Verfasstheit haben sie längst die anderen aus dem Gesichtsfeld verloren.
So leben und lieben sie aneinander vorbei, schwelgen in Erinnerungen, philosophieren über eine ferne Zukunft – schaffen es aber nicht, Ihrem Hier und Jetzt einen Sinn zu geben. Stattdessen hocken sie in Glittenbergs Bühnenbild wie in einem Wartezimmer ihres Daseins. Und wir schauen ihnen dabei zu: Laufenberg lässt sie auch mal mit dem Rücken zu uns spielen, schickt sie nach hinten zur langen Tafel. Vorne wird geliebt, hinten gegessen. Das sind die Pole ihrer Lebenswelt, der sie immer mal das ein oder andere Glückchen abzutrotzen suchen. „Es gibt kein Glück, nur die Sehnsucht danach“, lässt Tschechow wiederum seinen Werschinin konstatieren. Und Sehnsucht hat auch ein geografisches Zentrum: Moskau.
Nach der Pause ist alles anders. Nicht nur der Brand lodert vor den Toren, in Laufenbergs Lesart tobt draußen ein Krieg. Und die Matratzen, auf denen sich die Protagonisten wie Geflüchtete betten, bildet die aktuelle Assoziation dazu, dass sich auch heute wieder „die Menschheit um Kriege dreht“.
Das Dreigestirn aber dreht sich um die Liebe – mit Lina Habicht als Irina, Lena Hilsdorf als Olga und Mira Bensa als Mascha denkbar unterschiedlich besetzt. Das unterstreichen auch die Kostüme von Marianne Glittenberg: Die übermütig-kämpferische Irina in ihren hellen Kleidern, die herzlich-patente Olga mit ihren leicht unterkühlten Blautönen und klaren, korrekten Schnitten und die sauertöpfische, von Beginn an trauernde Masha ganz in schwarz – das charakterisiert das Frauentrio gut. Allen drei Schauspielerinnen gelingen plastische Darstellungen. Besonders überzeugt Lena Hilsdorf mit dieser Studie einer zurückhaltenden, verzichtenden Frau, die immer die Fast-Geliebte ist. Aber selbst sie muss in der Regie von Uwe Eric Laufenberg mal laut werden. Dieses Schreien und Keifen reißt in seiner Inszenierung immer wieder das ein, was er zuvor mit behutsamer Akribie aufgebaut hat: das leise, fast intime Nachspüren von emotional berührenden Dialogen, besonders im zweiten Teil.
Letzteres nimmt für dieses große Ensemble ein, bis in die Nebenrollen hinein ausgezeichnet besetzt. Großartig, was Christian Klischat aus dem Kulygin macht: Als mit allen Poren sein Credo der korrekten Formerhaltung lebender Gymnasiallehrer, verschließt er hilflos seine Gefühle hinter „Zufriedenheit“ und die Augen davor, dass seine Mascha einen anderen liebt.
Uwe Krauss ist der joviale, aber unempathische Tschebutykin, Matze Vogel der schillernde Werschinin, der seine kranke Frau vorschützt, um sich nicht wirklich auf Mascha einlassen zu müssen. Christoph Kohlbacher darf endlich einmal als Tusenbach einen Liebenden spielen und lässt diesen mit idealistischer Inbrunst und charmanter Unbeholfenheit um Irina werben.
Paul Simon ist deren wirrköpfiger Bruder Andrej: Ergebener Ehemann, hingebungsvoller Vater – und doch ein Schlitzohr, das seine Schwestern über den Tisch zieht. Als seine Frau steuert Christina Tzatzaraki eine komische Note bei. Noah L. Perktold ist als Solionyi, Felix Strüven als Fedotik, Benjamin-Krämer-Jenster als Rodé dabei. Außerdem die wunderbare Monika Kroll als Anfissa und Bernd Ripken als Ferapont. Wie schön, dass das Staatstheater diese ehemaligen Ensemblemitglieder immer mal wieder als Gäste verpflichtet.
Insgesamt ein Theaterabend, dessen Interpretation der Tschechow‘schen Figuren lange nachwirkt.