Carmen
Premierenbesetzung 2019.2020: Carmen | Lena Belkina * Don José | Sébastien Guèze * Escamillo | Christopher Bolduc * Remendado | Ralf Rachbauer * Zuniga | Philipp Mayer * Dancaïro | Julian Habermann * Moralès | Daniel Carison * Micaëla | Sumi Hwang * Frasquita | Shira Patchornik * Mercédès | Silvia Hauer * Lillas Pastia | Thomas Braun
Spielzeit 2019.2020 (Premiere 14. September 2019) / 2020.2021 / 2022.2023 / 2024.2025:
14. (Wiederaufnahme) / 19. / 22. / 28. Dezember 2024
9. Februar 2025
Jochen Rüth, Der Opernfreund
Derzeit zeigt das Hessische Staatstheater Wiesbaden die beeindruckende Carmen-Inszenierung von Hauschef Uwe Eric Laufenberg. Dabei bringt das exzeptionelle Dirigat von Yoel Gamzou am vergangenen Sonntag den Saal zum Toben.
Carmen ist bei Laufenberg nicht die männermordende femme fatale, die ihre Verehrer in den Abgrund zieht. Sie ist eine Kämpferin für die Freiheit, für die ihrer Gang, aber auch und vor allem für ihre eigene. Sie ist in einem an sich von Machos dominierten Teil der Gesellschaft nicht nur zierendes Beiwerk, das Freund wie Feind bezirzt, sondern hat sich dort trotz aller Gefahren gewissermaßen als Managerin etabliert. Vielleicht deshalb zeigt Gérard Naziri in seinem Video, das die Ouvertüre bebildert, eine Frau in einer Männerdomäne: in verschiedenen Szenen voller brutaler Nahaufnahmen zelebriert eine Torera das blutige Spektakel Stierkampf. Und wie sie reizt, Carmen Don José mit ihrer Weigerung, bei ihm zu bleiben – und bezahlt diese Willensstärke schließlich mit dem Leben. Laufenberg zeichnet Don José von Beginn an als Soziopathen: erst krankhaft pflichtbeflissener Außenseiter in seiner Kompanie, dann wahnsinniger Stalker, der die Geliebte, die ihn verlassen hat, lieber ermordet, als sie freizugeben. Diese Szene inszeniert Uwe Eric Laufenberg dann auch als Stierkampf, Carmen und die eingangs gezeigte Torera ähneln sich wie Zwillinge, angefangen von den Bewegungen und Gesten bis hin zur Garderobe (Kostüme: Antje Sternberg und Louise Buffetrille).
Auf die Drehbühne im Stierkampfarenarund postiert Gisbert Jäkel immer wieder eine meterhohe Mauer. Die ermöglicht dem Regisseur nicht nur wunderbare Auftritte und Abgänge von Protagonisten, sondern ist gleichermaßen Grenze zwischen Carmens Halbwelt und der Zivilgesellschaft. Gekonnte Personenführung sorgt für Action auf der Bühne und auch die Sängerschar begeistert michAaren Cawley ist ein Don José der Spitzenklasse mit bombensicheren und strahlenden Höhen und legt doch in der Blumenarie eine unglaubliche Zärtlichkeit in seine Stimme, Heather Engebretsons Micaëla betört durch feinste Piani und zarte Zwischentöne. Und doch ist die chinesisch-amerikanische Sopranistin eine vergleichsweise kämpferische Version ihrer Figur und zu überraschenden Ausbrüchen fähig. Jordan Shanahan zeigt in den beiden Arien seinen kultivierten Bariton. Keine Wünsche offen lässt Silvia Hauer in der Titelpartie: mit sattem Mezzo singt sie die weltbekannten Melodien mit großer Lässigkeit und Nonchalance, präsentiert einen bunten Strauß an Facetten und lotet so die Vielschichtigkeit ihrer Figur perfekt aus. Im Ohr bleiben auch Mercédès und Frasquita, die von Sarah Mehnert und Stella An stimmlich wie darstellerisch eindrucksvoll interpretiert werden. [...]
Im Graben tut sich Großes am vergangenen Sonntag: dass man eine so oft gehörte Partitur so frisch präsentieren kann, als würde sie zum ersten Mal erklingen, ist selten. Dem israelisch-amerikanischen Dirigenten Yoel Gamzou gelingt dieses Kunststück; gerade noch gibt er sich zusammen mit den Musikerinnen und Musikern des Hessischen Staatsorchesters Wiesbaden gefühlvoll aufgeladenem Adagio hin, um im nächsten Moment einem Vulkanausbruch gleich ins Prestissimo zu wechseln. Er ändert Tempi, Farben, Lautstärke innerhalb eines Wimpernschlages und präsentiert so eine wahrlich neue Carmen, die selbst routinierte Operngänger überrascht. Dass er dabei das eine oder andere Mal das Sängerpersonal verliert, ist schade, aber angesichts der glanzvollen neuen Eindrücke eines bekannten und oft allzu abgespielt präsentierten Werkes zu verzeihen. Am Ende dankt ihm das fast ausverkaufte Haus mit stehenden Ovationen, hat er doch die glühende Hitze dieses Juniabends musikalisch ins Theater gebracht.
Auch wenn die Carmen gefühlt an jedem zweiten Theater im Repertoire gespielt wird, lohnt DIESE, lieber Opernfreund-Freund, in jedem Fall den Weg nach Wiesbaden.
Das Opernglas, K. Scharffenberger
Carmen
Für den größten Aufreger des Abends sorgt Uwe Eric Laufenberg gleich zu Beginn seiner Neuinszenierung der Bizet-Oper. Denn sobald das Vorspiel mit dem ewig schmissigen Torero-Thema einsetzt, lässt der Regisseur (und Hausherr) einen Film auf den Bühnenvorhang projizieren, der vor Augen führt, wie Stierkampf wirklich ist: nämlich verdammt blutig. Wir sehen einen weiblichen Torero, eine Picadora, um genau zu sein, die hoch zu Ross durch die Arena reitet. Mit stolzem Lächeln spickt sie die Schultern eines Stiers mit ihren Spießen. Das Tier schnaubt, gereizt und geschwächt. Die Lanzenspitzen schneiden ins Fleisch, dunkelrote Flüssigkeit sickert ins Fell.
So viel Realismus kommt bei einem nicht geringen Teil des Wiesbadener Premierenpublikums gar nicht gut an. Kräftig wird in die kurze Generalpause der Ouvertüre gebuht. Doch so schön Georges Bizets Musik auch sein mag: »Carmen« wurde nicht dazu erdacht, den Zuschauer drei Stunden lang in eine Wohlfühlkäseglocke zu packen. Hier geht es knallhart um Verführung, Verzweiflung, Mord. Und das in einem ziemlich halbseidenen Milieu. Laufenberg tat also recht daran, das Werk gleich einmal mit etwas Naturalismus zu impfen. Dass es dem Regisseur dabei nicht bloß um den Schockeffekt geht, wird sich dann am Ende des letzten Aktes zeigen. Da mutiert Carmen nämlich durch ihre Garderobe zur Lanzenreiterin der filmischen Eröffnung, und Don José übernimmt durch Körpersprache den Part des Stiers. Nur sind die Rollen nun vertauscht. Das schnaubende, seelisch zutiefst verwundete Tier tötet seine schöne Peinigerin. Indem er den Film zum Vorspiel als allegorische Folie zitiert, verdeutlicht der Regisseur jene Parallele, die uns gleichzeitig auch Bizets Musik aufzeigt: Stierkampf und zwischenmenschlicher Showdown werden ineinander geblendet.
Trotz Anfangsschock und Schlussmetapher bleibt die Regie also ganz nah am Material. Und das durchweg. Eine revolutionäre Neudeutung oder Dekonstruktion der populären Oper offeriert der Regisseur nicht. Dafür aber eine sorgfältig ausgearbeitete Umsetzung der Handlung. Laufenberg und sein Generalmusikdirektor Patrick Lange haben sich bewusst für die Originalfassung der Uraufführung von 1875 entschieden. Mit ihren gesprochenen Dialogen wirkt diese Version wesentlich herber, direkter und realistischer als die später erfolgreichere Variante mit auskomponierten Rezitativen. Durch den hybriden Charakter rückt das Werk näher an die Alltagswelt heran. Allerdings ist die Verbindung von Sprechtexten und Gesangsnummern stets eine heikle Angelegenheit. In Wiesbaden jedoch gelingt sie vorzüglich: Ganz organisch gehen hier, bei exzellenter französischer Aussprache, gesprochenes und gesungenes Wort ineinander über. Was nicht zuletzt daran liegt, dass Laufenberg aus seinen Sängern richtige Schauspieler gemacht hat.
Die Personenregie ist brillant. Da sitzt jede Geste, jede Interaktion wirkt durchdacht und ausgefeilt, von Carmens Balztanz in Fesseln über die burlesken Auftritte des Schmugglerduos Dancairo und Remendado bis hin zu den Aufmärschen des Chors und den Macho-Allüren des Leutnants Zuniga. Selbst die postkoitale Bettszene, mit der die zweite Zwischenaktmusik garniert ist, erscheint völlig natürlich und dazu noch beredt. Während Harfe und Flöte für pastorale Stimmung sorgen, scheinen sich Carmen und Don José, beide noch halbnackt, bereits innerlich voneinander zu distanzieren. Im Dämmerschein eines fiktiven Morgens kreisen sie, zwei matte Gestalten, mit der Bühne von Gisbert Jäkel, die im Hintergrund stets eine Stierkampfarena abbildet, während in ihrer Mitte eine wunderbar wandelbare Wand ständig anderes vorstellt: zunächst die Tabakfabrik, in der Carmen zusammen mit ihren Kolleginnen Zigaretten dreht, dann die Spelunke von Lillas Pastia, schließlich die Berggegend, in der Micaëla Don José zu finden hofft.
Bernhard Uske, Frankfurter Rundschau
Unter Druck - Bizets "Carmen" im Staatstheater Wiesbaden
Mit einem weiblichen Matador in einer Stierkampfarena beginnt die Neu-Inszenierung von Georges Bizets „Carmen“ im Staatstheater Wiesbaden. Als Film auf einer über die gesamte Bühnenöffnung gespannten Leinwand. Der Kampf geht blutig aus, und, wenn ihr nicht Toreros zu Hilfe gekommen wären, tödlich für die Protagonistin. Klischee und seine Variation – die Arena setzt sich im abstrahierten Arenenrund mit der dann bis zuletzt filmlos bleibenden Opernhandlung fort, wo Gereizte und Reizende sich in Don José und Carmencita abwechseln. Der Stoff ist unverwüstlich und in allen Konstellationen und Deutungsweisen zig-fach ausgespielt.
Wiesbadens Opernintendant Uwe Eric Laufenberg hat sich denn auch vor Vereinseitigungen des Stoffs gehütet, den erotischen Kampfplatz zwar spezifisch gewichtet, dem Publikum aber bis auf das filmische Vorspiel kreative Überflüssigkeiten erspart. Mehr Gewicht liegt auf einer Bestimmung der Titelfigur, die extravagante, fatalistische oder emanzipatorische Bezüge klein hält. Normalität der Selbstbestimmung könnte man sagen, und das passte auch gut zur Präsenz und Ausstrahlung von Lena Belkina, die wenig femme-fatale-haft, verrucht oder exotisch vermittelt wird. Matador ist sie so eher ungewollt und erliegt letztlich ja dem gereizten Stier, dessen erotisches Zeitfenster einfach länger geöffnet ist als das von Carmen, von deren maximal sechs Monaten pro Liebhaber einmal die Rede ist.
Zur Verunklarung der Kampffront hat sicherlich dazu beigetragen, dass, gegenüber der unbestimmt bleibenden Stimmgebung Belkinas, in der Sängerin der treuen Micaëla die zentrale weibliche Stimme des Abends präsent war: Sumi Hwang. Ihre beiden großen Arien beziehungsweise Duette verschoben die Gewichte der Bedeutung entschieden und machten den Druck auf Don José besonders stark. Die auf Unscheinbarkeit gestylte Sängerin legte enorme vokale Energien frei und zeigte sich in ihrer Artikulation direkt involviert. Sébastien Guèze als Don José bot die zentrale vokale Offensive der Aufführung – von seiner anfänglich kühl-überlegenen Haltung gegenüber Carmens Werben vor der Zigarettenfabrik über das Engagement in der Schmugglerkneipe bis zu den ungeahnten vokalen Emissionen, zu denen der Sänger im Zustand seiner Eifersucht und finalen Kränkung in der Lage war. Großes Volumen, Stabilität in den voll ausgeschöpften Fortissimo-Höhen bis zuletzt. Ein Muster an wohlkalkulierter Stimm-Ökonomie. Wenngleich mit schöner Stimme ausgestattet, aber zu blass und für seine Stimmlage nicht ganz passend, der Escamillo von Christopher Bolduc. Trefflich besetzt waren Frasquita und Mercédès mit Silvia Hauer und Shira Patchornik.
Über die Dichte des finalen Showdown der Oper, die kein Film toppen kann, braucht kein Wort verloren zu werden. Es wäre schon ein regieliches Kunststück hier etwas zu versemmeln. Die kahle Arena des Bühnenrunds (Bühne: Gisbert Jäckel) war der beste Rahmen. Vorher sind sehr schöne Eindrücke vor allem im Schmugglerakt zu gewinnen, wo latent amouröse, fast gehobene Kühlheit, die sich schlagartig in tosenden Wirbel verwandeln kann, vorherrscht. Von größter Wucht die gesamte Torero-Prozession des dritten Akts, in der die Bizet’schen Ohrwürmer mit einer Kraft der Ausgelassenheit exekutiert werden, die einmalig ist. Die Jugendkantorei der Evangelischen Singakademie Wiesbaden sowie Chor & Extrachor des Staatstheaters: erstklassig.
Die musikalische Leitung hatte GMD Patrick Lange, der einen markanten Ton pflegte, der Bizets koloristischen Exotismus jederzeit auf seine formidablen Bedeutsamkeiten hin transparent machte.