Tartuffe
Spielzeit 2023.2024
7. Mai 2024
weitere Termine und Besetzungen:
www.staatstheater-wiesbaden.de
Katja Sturm, FNP
Heuchler gibt’s zu allen Zeiten - „Tartuffe“ modern und rasant im Staatstheater Wiesbaden
Mehr als 350 Jahre hat Molières „Tartuffe“ bereits auf dem Buckel, doch in Uwe Eric Laufenbergs Inszenierung für das Kleine Haus des Wiesbadener Staatstheaters ist der bitterbösen Komödie des französischen Dramatikers dieses Alter nicht anzumerken. Klar, Heuchler und betrügerische Verführer gibt es in jeder Ära, und so bleibt das Thema dauerhaft aktuell. Aber unter der Regie des in einem Jahr scheidenden Intendanten kommt die Geschichte extrem frisch, vergnüglich und spannend daher, und nicht nur das schockierende Ende, das noch jenes provokante toppt, mit dem das Stück zu seinen Ursprungszeiten Aufregung erregte, lässt es lange nachhallen.
Rolf Glittenberg hat die Handlung in eine einfache Szenerie eingebettet. Zwischen pastellfarbenen Wänden, darunter eine mittige im Hintergrund, die manchen und manches versteckt und verdeckt, steht ein graues, aber modernes Sofa. Drei Bildschirme zeigen TV-Ausschnitte von „Tagesschau“ bis „Dschungelshow“, die immer wieder das kommentieren, was davor geschieht. Die Zeitlosigkeit unterstreichen die überwiegend schwarzen Kostüme von Marianne Glittenberg, auch durch ihre Schnitte eher Abend- als Alltagskleidung. Bei der Party der wohlhabenden Verwandtschaft zu Beginn wird begeistert Koks geschnupft. Die Grande Dame des Hauses, Madame Pernelle, weist jeden Einzelnen verächtlich in die Schranken. Monika Kroll spielt sie als Teil eines exquisiten Ensembles, darunter Christina Tzatzaraki als resolute und vorlaute Zofe Dorine, die den ungeliebten Gast glasklar durchschaut.
Jener, Tartuffe (Christoph Kohlbacher), erschleicht sich als göttlicher Schein- Heiliger, der drei Religionen gleichzeitig dient, in Wahrheit aber doch nur sich selbst, gegen den Widerstand des Großteils der Familie das Vertrauen des allzu naiven Hausherrn Orgon (Michael Birnbaum). Zu spät erkennt dieser seinen Irrtum, als er, inmitten der Zuschauer sitzend, mitansehen muss, wie der bigotte Gutmensch schamlos all seine Hüllen fallen lässt. Nach dem Stimmungswechsel entfaltet der knapp drei Stunden lange Abend rasante Dynamik. Mit- und hinreißend war er vorher schon.
Birgitta Lamparth, Wiesbadener Kurier
Cool, drastisch und sexy: „Tartuffe” am Wiesbadener Theater
[...] Das komödiantische Drama in der Familie von Orgon beginnt mit Krawall: Da wird gezetert und gestritten, und die Mutter Orgons, Madame Pernelle, verteilt nicht nur heute sattsam bekannte Redensarten („jeder will sein Mütchen an mir kühlen”), sondern auch fiese Spitzen gegen ihre Schwiegertochter („kleidet sich verschwenderisch wie ein Prinzessin”). Eine Paraderolle für die Grande Dame Monika Kroll. Wie überhaupt hier sofort die Duftmarke gesetzt wird: Die Frauen in Stück und Inszenierung haben hier eindeutig eher den Durchblick. Und während die Sippschaft ein bisschen arg betont gierig auf einem Spiegel Kokain konsumiert, flimmern Szenen vom „Dschungelcamp”, Protesten in Frankreich und ein Abgesang auf G.W. Bush über drei große Monitore ins Wohnzimmer. Videobilder werden im Laufe des Abends immer mal wieder die Geschehnisse kommentieren, konterkarieren und manchmal auch karikieren.
Das ist aber auch das Einzige, was mal ablenkt. Das Bühnenbild von Rolf Glittenberg ist ansonsten denkbar schlicht: Eine breitflächig in Pastellfarben quergestreifter Bühnenraum mit einer mittigen Wand, die den Auftritt von rechts und links ermöglicht. Eine Nische zum Lauschen. Ein riesiges, kantiges Sofa - fertig. Marianne Glittenberg kleidet das Ensemble heutig und fast komplett in Schwarz. [...]
Diese Familie, sagt uns das alles, ist also an ein Luxus- und Lotterleben gewöhnt. „Jeunesse dorée” die Jungen, die ohne Sorgen miteinander anbändeln, verbissen, aber sexy die Älteren. Wäre da nicht der eine, der diesen „Frieden” stört: „Das ist ein Mensch! Ein Mensch! Ein Mensch schlechthin!” schwärmt Orgon von jenem Neuzugang, den er in der Familie aufgenommen hat, so, als sei es menschlich, scheinbar unfehlbar und fromm zu sein. Und genau das täuscht Tartuffe vor. An seinen Fäden lässt sich Michael Birnbaums zuerst naiv-jovialer und später aufbrausend-enttäuschter Orgon wie eine Marionette führen: Tartuffe schmeichelt seinem Selbstbild als Wohltäter, in dessen Heiligenschein sich Orgon sonnt.
Und auch das übrige Ensemble ist glänzend besetzt: Lukas Schrenk als aufbrausender Sohn Damis, Christian Klischat als patent-klarsichtiger Schwager Cléante, Paul Simon als Valère, der in Orgons Tochter Marianne verliebt ist, von Marlene-Sophie Haagen verletzlich und verzweifelt gegeben, Benjamin Krämer-Jenster als Gerichtsdiener mit dem beredten Namen „Loyal” und vor allem die sehr sophisticated-gerissene Elmire von Maria Wördemann, der es schließlich gelingen wird, ihren Mann Orgon von der perfiden Bigotterie Tartuffes zu überzeugen. Eine besondere Note verleiht dieser Inszenierung Christina Tzatzaraki: Ihre renitente und lebenskluge Zofe Dorine scheint ihr förmlich auf den Leib geschrieben zu sein - sie ist die heimliche Macht im Hause Orgon.
Wäre da nicht die Titelrolle. Christoph Kohlbacher ist ein beklemmend überzeugender Tartuffe: Als gefährlich leiser Scharlatan trägt er sein Gutmenschentum wie eine Monstranz vor sich her. Ein sektiererischer Super-Guru, kurz vor der Heiligsprechung. Und jederzeit bereit, sich als Opfer darzustellen - wenn er nicht gerade den großen Verführer spielt. Da lässt Laufenberg ihn auch mal blank ziehen und verteilt Religionskritik großzügig an drei monotheistische Religionen: Tartuffe packt dazu Weihwasserschwenker, Chanukka-Leuchter und Gebetsteppich aus. Das ist mitunter schon drastisch. Krass und laut ebenfalls das Ende, das an den Anfang anknüpft - und mit einer Überraschung aufwartet. Auch dazu passen die Kostüme. Das Premierenpublikum ist begeistert - und hat danach viel Gesprächsstoff.
Matthias Bischoff, FAZ
Der blasse Blender und die Feierbiester
Die Familie des Herrn Orgon ist ein ziemlich verkommener Haufen. Mutter, Tochter, Sohn und Schwiegersohn in spe sind wahre Feierbiester, es fließt reichlich Alkohol, es wird gekokst, mehrere Fernseher spülen Nachrichten und trashige Game-Shows ins coole Wohnzimmer. Kein Wunder, dass der Hausherr und seine betagte Mutter Madame Pernelle (Monika Kroll) so verdrießlich auf das lose Treiben schauen und ihr Heil in einem Anstand, Tugend und religiöse Inbrunst verkörpernden Retter suchen und ihn in ihr Haus aufnehmen: Tartuffe.
Es gehört zum Raffinement Molières, dass die Titelfigur des Stücks erst dann die Bühne betritt, als der Schrecken, den er für den größten Teil der Familie bedeutet, längst von allen Seiten beleuchtet wurde. Was muss das für ein Mensch sein, der von den einen so vergöttert, den anderen so verteufelt wird? Als in Uwe Eric Laufenbergs Inszenierung Christoph Kohlbacher als Tartuffe barfuß mit sanftestem Schritt und gesenktem Blick hinter der Bühnenwand hervortritt, lachen viele Zuschauer im Kleinen Haus spöttisch auf: Dem grau gewandeten Schleicher sieht man den scheinfrommen Heuchler auf hundert Meter an, wie verblendet kann man sein, dies nicht zu erkennen?
Dieses Nicht-sehen-Wollen Orgons spielt Michael Birnbaum mit geradezu ekstatisch-inbrünstiger Verstocktheit. Sowohl dem vernünftigen Rat seines Schwagers Cléante (Christian Klischat) als auch der lebenstüchtigen Klugheit der Zofe Dorine (Christina Tzatzaraki) bleibt er unzugänglich; ja, schlimmer noch: In die Enge gedrängt, verstößt er den Sohn Damis (Lukas Schrenk) und will seine Tochter Marianne (Marlene-Sophie Haagen) mit Tartuffe verheiraten. Ihm bei seinem Sich-Verrennen zuzuschauen, macht ebenso Vergnügen wie das verzweifelte Anrennen der Familien gegen diese Mauer aus Ignoranz. Laufenberg zeigt unmissverständlich, dass die Erklärung für Orgons Unterwerfungsbereitschaft schlichtweg im Leiden an seiner Familie liegt. Mit Tartuffe hat er sich einen Verbündeten ins Haus geholt, denn er allein ist trotz seines übererregten Furors zu schwach, es mit den fröhlichen Hedonisten ringsum aufzunehmen. Tartuffe, dies legt eine der vielen köstlichen Einzelszenen dieses Molière-Abends nahe, ist wirklich sein innerer Bruder, und wenn Orgon den Heuchler abbusselt und befummelt, jauchzt seine malträtierte Seele vor allem, weil da einer so ist wie er selbst. Zumindest scheinbar.
Auf der Bühne von Rolf Glittenberg hält Laufenbergs Inszenierung die Balance zwischen Scherz und tieferer Bedeutung. [...] Die Entschädigung folgt auf dem Fuß: Die Verführungs-, ja fast schon Vergewaltigungsszene zwischen Tartuffe, der sich hier zunächst im Netzunterhemd und dann hüllenlos in seiner ganzen männlichen Pracht zeigt, und Orgons im schulterfreien Cocktailkleid Freizügigkeit signalisierenden Ehefrau Elmire (Maria Wördemann) ist ein weiteres Kabinettstückchen des Abends, vom Publikum mit Szenenapplaus belohnt. Das Komödiengesetz will es, dass am Ende alles gut wird. Doch so einfach wie in Molières Original möchte es Laufenberg der Familie Orgon nicht machen. Bis zum überraschenden abrupten Ende lässt seine Inszenierung keinen Zweifel daran, dass der blasse Blender Tartuffe allen überlegen ist, dass ihre gedankenlose Lebenslust an seiner Raffiniertheit und Bosheit zerschellen muss.
Judith von Sternburg, FR
„Tartuffe“ in Wiesbaden: Reich und schön
An einer Stelle macht es die Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg vielen von uns leichter. Der berühmte Heuchler Tartuffe wird da als Verfechter eines gnadenlos austauschbaren Frömmlertums gezeichnet – aus diversen Stofftaschen, die er mitgebracht hat, kann er Accessoires für christliche, muslimische, jüdische Riten ziehen. Auch ein Räucherstäbchen ist zur Hand. Einerseits ist es eine (mindestens) seit seinem Bayreuther „Parsifal“ vertraute Laufenberg-Idee, die Weltreligionen gemeinsam auf der Bühne ihr Wesen und Unwesen treiben zu lassen. Andererseits ist es gerade an diesem Abend ganz handlich, in Tartuffe nicht einfach einen Schurken unserer Tage zu sehen, den schlimmsten Egoisten, Speichellecker und Ausnutzer von allen.
Denn im Prinzip sind die Zeichen der jüngsten Molière-Inszenierung am Staatstheater Wiesbaden ganz auf eine welthaltige Gegenwart gestellt. Rolf Glittenberg hat ein schlichtes Bühnenbild gebaut, hinter einer Wand kann man rasch verschwinden und hervor schlupfen. Marianne Glittenbergs Kostüme vermitteln in Schwarzweiß einen eleganten Chic mit Resten von Barock, hier ein wenig Tüll, dort Samt und etwas Florales. Hinten drei große Fernsehbildschirme, auf denen Bilder zum Teil einen gelinden Bilderoverkill servieren, dies vor allem zu Beginn, als die Welt der Orgons noch einigermaßen in Ordnung ist. Die Fernsehapparate laufen, die Großmutter – die wunderbar knochentrockene Monika Kroll – schimpft über die Jugend von heute, und im Ganzen sieht es so aus, als gehörte die Familie selbst in „Sturm der Liebe“ oder „Reich und Schön“. [...]
Eine moderne und zugleich konservative Familie – derzeit tatsächlich kein Widerspruch. Maria Wördemanns Elmire ist die pure, dabei ungerührte Verlockung, der Molière einige Jahrhunderte vorab interessante Statements zur MeToo-Debatte in den Mund legte. Wördemann lässt sie kühl herausperlen. Auch Elmires Bruder, Christian Klischat, ist die personifizierte Vernunft, Christina Tzatzaraki als Dorine die dritte im Bunde derer, die ihre sieben Sinne beisammen haben. Marlene-Sophie Haagen ist die gehorsame Tochter, der Laufenberg einen großen Auftritt gibt, als die Zwangsehe näher rückt und es uns auch vom Saal aus kalt den Rücken herunterlaufen kann.
Unter Rabauken
Lukas Schrenk ist der bis ins Rabaukige aufbrausende Sohn, der natürlich im Recht ist, Michael Birnbaum der bis ins Rabaukige aufbrausende Vater, der natürlich im Unrecht ist. Er ist es, der Tartuffe ins Haus gelassen hat. [...]
Nach drei Stunden geht das Staatstheater davon aus, dass eine solche Geschichte nicht gut endet.